„Diese junge Kämpferin, die mit ihrem Herzen und Hirn sie alle [Revolutionär:innen, Anm. KH] umfaßte, wird auch nach ihrem Tode durch ihre Bücher ein lebendiger Zeuge der proletarischen Revolution bleiben.“ (S. XXXI). Die bis heute eher unbekannte und früh verstorbene Journalistin und Pazifistin Larissa Reissner war eine große Verfechterin der Russischen Revolution, sie glaubte an den Sieg der aufständischen Arbeiter:innen, als Anhängerin der Bolschewiki und überzeugte Kommunistin. In ihren Schriften, die Momentaufnahmen sind, gab sie den Leser:innen einen Eindruck dieser Zeiten, in denen sich die Menschen für eine gerechte gesellschaftliche Umwälzung einsetzten.
Die ausgewählten Beiträge Reissners wurden 1926 von Karl Radek (1885-1939), der lange Zeit an der Seite Lenins wirkte, zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution im Neuen Deutschen Verlag (Berlin) herausgegeben und mit einem Vorwort eingeleitet, in dem es heißt: „Zu der winzigen Zahl der Intellektuellen, die nicht nur entschieden zum kämpfenden Proletariat übertrat, sondern übertrat mit tiefem Bewußtsein der weltgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse, mit tiefem Glauben an den Sieg, ja, mit einem Aufjuchzen gehörte Larissa Reissner.“ (S. XII, Hervorhebung im Original).
„Oktober“ umfasst fünf Reportagen und Beobachtungen aus den Jahren der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in Russland, Afghanistan und Deutschland.
Im ersten Abschnitt „Die Front. 1918-1919“ berichtet Reissner von den Kampfhandlungen und heroischen Taten der Revolutionär:innen im russischen Bürgerkrieg direkt aus den bekannten umkämpften Orten wie bspw. Swijaschsk, Astrachan und Baku, um der jungen Generation ein Bild der damaligen Zeit zu vermitteln. Sie führt dazu in ihrer Vorbemerkung aus: „Dieses Buch widme ich den Studenten der Arbeiterfakultäten. – Mögen sie schimpfen, mag ihnen manches der ketzerischen Worte in der Kehle steckenbleiben. Aber mögen sie es zu Ende lesen, erfahren, wie es war, von Kasan – bis Enseli. Es waren dröhnende Siege, es waren Niederlagen in einem Meere von Blut. An der Wolga, Kama und am Kaspischen Meere zur Zeit der Großen Russischen Revolution.“ (S. 8). Mit einem außergewöhnlichen Blick für Details und einem Gespür für die Menschen in dieser Zeit schildert sie das Leben und Überleben im Krieg und auf der Flucht. Eindrücklich mahnt Reissner: „Brüder! – ein verbrauchtes, unglückseliges Wort. Aber es kommt zuweilen, in den Augenblicken der äußersten Not und Gefahr – dann ist es heilig, groß, unantastbar. Und jener hat niemals gelebt und weiß nichts vom Leben, der nicht eines Nachts zerfetzt und verlaust auf dem schmutzigen Boden gelegen und sich nicht dabei gedacht hat, daß die Welt herrlich, unendlich herrlich ist. Daß das Alte zusammengebrochen ist, und daß das Leben mit nackten Händen um seine unumstößliche Wahrheit kämpft, um die weißen Schwäne seiner Auferstehung, um etwas unvergleichlich Größeres und Besseres als dieses Stück Sternenhimmel, das durch die samtschwarzen Fenster mit der ausgeschlagenen Scheibe sichtbar ist – um die Zukunft der ganzen Menschheit.“ (S. 51).
In ihren Skizzen über Afghanistan, das sie 1920 als Mitglied der sowjetisch diplomatischen Delegation besuchte, berichtet sie stolz von ihren Beobachtungen der gesellschaftlichen Veränderungen: „In einer Fabrik in Kabul, wo die nackten Schultern der Arbeiter von den Aufsehern mit Stöcken bearbeitet werden, wo in der Zuschneidewerkstatt Menschen, die wie lebende Leichen aussehen, mit ungeheuren phantastischen Scheeren ihre eigenen Leichengewänder zuzuschneiden scheinen, wo der Fabrikbesitzer Feudalherr, General, Polizeichef und absolutistischer Monarch in einer Person ist, sogar in dieser Fabrik hat sich bereits ein proletarischer Sauerteig gebildet, der die künftige Geschichte des Landes wird aufkeimen lassen.“ (S. 191f.). Reissner beobachtet und dokumentiert das harte Arbeitsleben in den Fabriken der Schwerindustrie.
In ihrer dritten Reportage „Kohle, Eisen und lebendige Menschen“ lenkt sie den Blick auf die lebensgefährlichen und schweren Arbeitsbedingungen in einzelnen Zechen des sowjetischen Bergbaus und der Metallgewinnung, beschreibt die sogenannten Unterweltler, die Arbeiter im Stollen und deren tagtägliches Tun für eine bessere sowjetische Gemeinschaft.
1924 reiste Reissner im Auftrag der Kommunistischen Internationalen (Komintern) durch Deutschland: „Aber ich wollte nicht nur die deutschen Straßen und was auf ihnen bettelt, hungert, spazieren geht, Auto fährt und marschiert, kennenlernen, sondern sehen, von wo aus sie unsichtbar regiert wird, wo die Millionen Fäden und Kabel hinlaufen, die Machtzentren der öffentlichen Meinung, die Produktionswerkstätten von deutschem Geist, deutscher Kultur und deutschen Kanonen.“ (S. 333). In „Im Lande Hindenburgs“ schaut sich Reissner mit einer ordentlichen Portion Ironie die hiesigen Tageszeitungen Berlins an. Vor allem aber spricht sie mit den verzweifelten verarmten Arbeitslosen in den Kasernen der Vororte. Von einer Schustersfrau berichtet sie: „Aus Angst und im Bestreben, das feindselige Haus, dessen Wände jedes Wort, jeden Schritt laut und ausdruckslos wiederholen, zu bestechen, wäscht die Frau des Schusters jeden Tag den endlos langen Korridor auf. Sie tut es, um mit dieser Wohnung in gute Beziehung zu treten; sie gibt der Kaserne einen Vorschuß menschlicher Wärme, die diese Mauern gleichgültig hinnehmen wie der Unteroffizier – das naive Geschenk eines Rekruten. […] Und wenn es finster und besonders kalt wird, steigen die auf der Decke gemalten Adler herab, schleichen sich in den Hof und durchwühlen die Müllgruben nach Überresten, die die Hühner des Schusters übersehen haben. Sie tauchen ihre rassigen, mit dem spärlichen Gefieder des Kaiserreichs geschmückten Glatzen tief in den schmutzigen Abfall hinein.“ (S. 374f.).
Der fünfte und letzte Abschnitt der ausgewählten Schriften Reissners umfasst eine genaue Beschreibung der Abläufe vor und während des Dekabristenaufstands im Dezember 1825 zum hundertsten Jahrestag.
Kurt Tucholsky war 1927 voll des Lobes für Reissners Reportagenband, er schrieb in seiner Rezension folgendes: „Diese fast genialen Enthüllungen, die uns die Frau über Krupp und über Junkers, über die Russen und die Afghanen hinterlassen hat, sind schon selten genug. Dies hier aber, diese Schilderungen aus dem Lager der Armut, liefert in Deutschland keiner, weil es bei uns kaum Ansätze einer großen gesinnungsvollen und scharfen Reportage gibt.“ (Tucholsky, Kurt: Mit 5 PS durch die Literatur. Essays und Rezensionen. Berlin/Weimar 1973, S. 312).
Text: Katrin Huhn
Achtung! rassistische Begriffe auf den folgenden Seiten: S. 248, S. 250, S. 328, S. 346, S. 364
Larissa Reissner, Oktober. Ausgewählte Schriften, Berlin 1926, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-16> [21.11.2024].