Die sozialdemokratische Politikerin, Reformpädagogin und überzeugte Pazifistin Anna Siemsen wurde in ihrem Schaffen bereits früh von den Nationalsozialisten gehindert. Wo sie konnte, stellte sie sich gegen den Einfluss dieser menschenunwürdigen und gefährlichen Ideologie. Mit ihren Vorträgen versuchte sie ihre ZuhörerInnen davon zu überzeugen, dass der sich immer mehr verstärkende Nationalsozialismus zu großem Unheil führt. Als sie 1932 gemeinsam mit anderen Lehrenden gegen die Amtsenthebung des Professors Emil Julius Gumbel protestierte, entzog man ihr die Lehrberechtigung und damit auch ihr Wirkungsfeld. Anna Siemsen musste Deutschland verlassen, das war ihr spätestens mit der einsetzenden Verhaftungswelle nach dem Reichstagsbrand 1933 klar. Aus dem schweizerischen Exil heraus versuchte sie die Menschen mit ihren Vorträgen, Lehrgängen und Artikeln aufzuklären, mehr noch aufzurütteln.
Im Vorwort ihrer essayistisch verfassten Literaturgeschichte „Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft“, die von der Thüringischen Verlagsanstalt und Druckerei Jena 1925 veröffentlicht wurde, unterstreicht sie ihre bevorzugte Lesergruppe, Siemsens Überblicksdarstellungen „[…] versuchen, den Leser zu einem selbständigen Eindringen in eine gegebene Zeit zu befähigen. Sie wenden sich vorzugsweise an Arbeiter, an die Jugend und an jeden, der gern Dichtung und Schrifttum, die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, des gegenwärtigen Menschen verfolgen möchte und dem zunächst die Hilfsmittel dazu fehlen. […] sie sind […] durchaus politisch gemeint, da ich mit Seume glaube, daß jedes unpolitische Buch entweder überflüssig oder ganz und gar schlecht ist.“ (S. 5)
In sechs Oberkapiteln, die jeweils die literarischen Strömungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart kulturhistorisch sowie gesellschaftlich umrahmen, stellt Siemsen in knappen Skizzen bedeutende Autoren, deren Werke und ihre Entstehungskontexte vor. Viele namhafte Autoren wie Dante Alighieri, Denis Diderot, William Shakespeare, Heinrich Heine, Georg Büchner u.v.a. finden hier ihren Platz. Auffällig ist, dass Siemsens Einführungen eine überwiegende Rückständigkeit der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte sichtbar werden lassen.
Im Kapitel über die Entwicklung und Ausprägung der Dichtung im Mittelalter stellt sie beispielsweise anerkennend fest: „In der viel stärker entwickelten ritterlichen Gesellschaft Frankreichs kämpften die fehdelustigen Herren seit langem nicht nur mit Waffen, sondern mit Spott- und Trutzliedern gegeneinander. Dort gab es eine glänzende politische Dichtung. Aber die armen gedrückten Fahrenden Deutschlands hatten bisher in ihren Sprüchen nur ihre persönlichen Nöte geklagt, gebettelt, geschmeichelt und sich mit ihren Genossen gestritten.“ (S. 26) Auch in der Bauernliteratur gibt es nur vereinzelte Ansätze im Gegensatz zu den großen Erzählschätzen Russlands und Skandinaviens. Der reformatorische Wandel in den europäischen Gesellschaften, der im 17. Jahrhundert beginnt, erreicht nicht Deutschland, wie Siemsen weiter ausführt: „Von der romanischen Welt geht die Bewegung aus, von dem Kulturzentrum der alten Welt, dem mittelländischen Meer. Italien erwacht am frühesten, Spanien wird nur halb und nur für kurze Zeit mitgerissen. Aber Frankreich und England nehmen die Bewegung auf und führen sie fort. […] Deutschlands Geschick aber wendet sich hier zuerst zum Tragischen. Ein Jahrzehnt entscheidet. Nachdem die Reformation eingesetzt hatte als eine große revolutionäre Bewegung, ist mit dem Zusammenbruch des Bauernkrieges jeder gesellschaftliche Fortschritt für Jahrhunderte unterbunden. Der dreißigjährige Krieg war die unvermeidliche Folge der Bauernniederlage, und Folge des dreißigjährigen Krieges war Deutschlands Lethargie in dem für das europäische Bürgertum entscheidenden Jahrhundert.“ (S. 50)
In ihren vergleichenden Darstellungen urteilt Siemsen über die literaturgeschichtliche Entwicklung Deutschlands folgendermaßen: „So haben wir vom ganzen 17. Jahrhundert kein deutsches Buch, das uns so ganz und gar in das Elend, die Wirrnis und die bunten Gegensätze dieser Zeit versetzt.“ (S. 76f.) Dafür hebt sie die revolutionären und modernen Dichterstimmen Englands hervor, wie etwa Jonathan Swift, und befindet kritisch: „Es ist nicht unwichtig festzustellen, daß in dem durch und durch korrumpierten England jener Tage, in dem Lande der Krämer und Händler die Wahrheit und die leidenschaftliche Ueberzeugtheit eines geistigen Menschen mächtiger war als der Ruhm eines großen Feldherrn. Und es ist nicht überflüssig, diese Tatsache mit der Lage in Deutschland zu vergleichen, das sich das Land der Dichter und Denker nennt. Wir haben bis heute noch keinen Swift gehabt. Und unsere wenigen politischen Schriftsteller großen Maßstabes haben wir konsequent zur Ohnmacht verurteilt, zur Verbannung oder zum freiwilligen Tode. In letzter Zeit beschleunigen wir den Prozeß, indem wir sie ermorden.“ (S. 85)
Ähnliches konstatiert sie im Vergleich mit der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts: „Wie traditionstreu die angeblich so veränderungslustigen Franzosen sind und wie traditionslos – weil geschichtslos – wir Deutschen, das wird uns bewußt, wenn wir aus einer klassischen Vorstellung oder von der Terrasse von Meudon kommen und lesen einen französischen Leitartikel von heute oder eine gestern erschienene wissenschaftliche Abhandlung.“ (S. 104f.) Siemsen hebt Gotthold Ephraim Lessing in ihrer Darstellung besonders hervor und verurteilt aufs Schärfste den zeitgenössischen Umgang mit ihm und seinem Werk: „Man hat aus diesem allerlebendigsten, ungelehrtesten, kampffreudigsten, aus dem unliterarischsten aller deutschen Schriftsteller einen gelehrten Systematiker und Halbdichter gemacht und hat so bei aller gezollten Ehrfurcht seine unprogrammäßige Erscheinung eingeordnet in das Pantheon deutscher zeitloser Geistigkeit. Lessing ist aber gerade deshalb für uns Heutige lebendig und kräftig, weil er zu seiner Zeit das Werk seines Tages und nur seines Tages tat und der göttlichen Vorsehung die Sorge für die Ewigkeit überließ.“ (S. 121)
Das ausgehende 19. Jahrhundert steht nach Siemsen in der Erzähltradition Frankreichs, der deutschen hingegen erteilt sie eine deutliche Absage: „Es ist sehr schwierig, für uns Deutsche eine Vorstellung zu gewinnen, was literarische, was künstlerische Tradition überhaupt bedeutet. Denn wir haben an Stelle der Tradition ein paar Dogmen oder sind ganz traditionslos. Frankreich aber hat eine Entwicklung, die gerade im Roman zu immer klarerer Form und leichterer Technik führt.“ (S. 160) Im Zusammenhang mit Émile Zolas Schrift „Jʼaccuse“ schlussfolgert sie folgendes: „Es gibt in Frankreich Menschen, die wissen, was man in Deutschland noch nie begriffen hat: Im Kampf um die Gerechtigkeit geht es nie um eine Person, um Sympathie und Antipathie, um Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit, sondern nur darum, daß das Recht geschehe.“ (S. 163) Hinsichtlich des literarischen Schaffens und Wirkens der Gebrüder Mann vermutet sie, dass die Werke Heinrich Manns in Zukunft bedeutsamer sein werden, denn Thomas Mann „[…] hatte das Unglück, in Deutschland sehr berühmt zu werden, und er […] hat das Augenmaß für sein feines und schmächtiges Talent verloren und sich in politische und philosophische Gefilde begeben, in denen er sonderbar verirrt und verloren erscheint.“ (S. 179f.)
Siemsens kurzweilige und herausragend anekdotisch erzählten Einführungen in die europäischen Literatur- und Geistesgeschichten machen vor allem den rückständigen Charakter der gesellschaftlichen, politischen und kulturhistorischen Entwicklung Deutschlands deutlich. Sie verhöhnt den Ruf der deutschen Literaturgesellschaft und verneint Deutschland als das „Land der Dichter und Denker“ entschieden, abgesehen von Ausnahmen wie beispielsweise Georg Büchner, Gerhard Hauptmann, Heinrich Heine und Alfred Döblin. Im Anhang befindet sich eine Bibliografie mit ausgewählter empfohlener Literatur.
Text: Katrin Huhn
Achtung! Rassistische Begriffe auf den folgenden Seiten: S. 16, S. 171, S. 251
Anna Siemsen, Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, Jena 1925, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-5> [21.11.2024].