Bernhard Kellermann, Der 9. November, 1922

Quellenbeschreibung

Bernhard Kellermanns populärer Antikriegs- und Revolutionsroman erfreute sich etlicher Auflagen und avancierte zum Bestseller, bis er 1933 verboten und verbrannt wurde. In diesem umfangreichen Berliner Großstadtroman werden die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Folgen des Ersten Weltkrieges für die Menschen auf sehr mitreißende Art verhandelt bzw. thematisiert. Darüber hinaus zeigt Kellermann eindringlich und kritisch die verheerenden mentalen und physischen Auswirkungen für die traumatisierten und körperlich versehrten Soldaten auf. Ein breit angelegtes Figurentableau, vom trauernden und verzweifelten Vater bis hin zum Kriegsgewinnler, eröffnet den Lesenden ein vielstimmiges Bild dieser Zeit.

Der Roman, erstmals 1920 im Berliner S. Fischer Verlag erschienen, spielt im Jahr 1917 und endet mit den revolutionären Soldatenaufständen 1918. Beobachtungen der vom Krieg gezeichneten Soldaten wie die folgende unterstreichen deutlich die abwehrende Haltung Kellermanns zum deutschen Militarismus: „Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der Weltgeschichte bewegten.“ (S. 13).

In umfangreichen Kapiteln begegnen die Lesenden Akteur:innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen. Ranghohe Militärs treffen bei abendlichen Veranstaltungen auf gelangweilte gutsituierte Damen und plaudern, während der Blick in das Leben in den Mietskasernen und auf die Straßen Berlins eine deutlich andere Wirklichkeit zeigt. Da gibt es zum Beispiel Otto, den Sohn eines Generals, der Angst davor hat in den Krieg zurückkehren zu müssen: „Der Gedanke an die Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine Brust.“ (S. 38). Er schießt sich in die Hand, um der erneuten Rekrutierung zu entkommen. Sein Vater, der General, indes erhält einen Brief von einem Mann namens Herbst, dessen Sohn Robert auf einem der Schlachtfelder getötet wurde. Er bittet um Aufklärung des Todes und darum, ihm den genauen Ort mitzuteilen, wo sein Sohn begraben ist.

Der vom Krieg traumatisierte Student namens Ackermann, ein kriegsversehrter Heimkehrer, läuft durch Berlin und schaudert: „Dies ist die Stunde, da die Gefangenen in all den hundert Lagern, von Menschen errichtet, um Menschen gefangenzuhalten, noch einmal an den Stacheldrähten entlangstreichen wie Tiere, bevor man sie in ihre Höhlen zurückjagt, da die Hände von Hunderttausenden von gefangenen Menschentieren sich verkrampfen um den kalten Draht. Ja, dies ist die Stunde des schrecklichen Sterbens – in Flandern und Frankreich, in Italien, Mazedonien und der Türkei, überall in dieser ganzen verfluchten Welt. Dies ist die Stunde, da das Elend der ganzen Welt sich vertausendfacht – da das Gespenst des menschlichen Elends sich riesengroß über der Erde erhebt…“ (S. 195). Ackermann möchte revoltieren und seine getöteten Kameraden rächen, dass ihr Tod nicht umsonst gewesen war. Verzweiflung, Trauer und eine ungemeine Kriegsmüdigkeit und -verdrossenheit umgeben den Großteil der Romanfiguren. Herbst und Ackermann wohnen beide in Mietskasernenwohnungen. In der Wohnung des Studenten trifft man sich zu konspirativen Zwecken, Hähnlein, ein Freund Ackermanns, muss wieder an die Front zurück: „Man hatte ihn wieder gemustert, und morgen ging der Transport an die Front. Die ‚Mordkommission‘ war in der Kaserne gewesen. Zurück, zur Front, abermals – ja, der Granatsplitter, der ihm die Schädeldecke zertrümmert hatte, so daß er keine Treppe steigen konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten – er zählte gar nicht. Und der Brustschuß, den er in Serbien erhielt – auch er zählte nicht. Und dreimal in Frankreich, zweimal in Rußland, in Serbien – all das zählte nicht.“ (S. 323f.). Ackermann wünscht sich nichts sehnlicher als ein Ende des Blutvergießens auf der Welt und er hofft auf solch eine Zukunft: „Glückliche, gütige Menschen, ohne Mißtrauen, ohne Neid, ohne Hochmut werden es bewohnen. Kein Mensch wird fortan der Unterdrücker eines andern sein, kein Volk der Unterdrücker eines andern Volkes, für immer ist die Zeit der Sklaverei dahin. Freiheit, Freundschaft, Freude wird der Gruß des neuen Menschen lauten.“ (S. 343).

Die sozialen Unruhen werden in der Stadt immer augenscheinlicher. Der General indes versucht sich von jeglicher Schuld freizusprechen, denn gegen ihn steht eine Untersuchung an, die mit dem Tod des Sohnes von Herbst zu tun hat. Gegenüber einem hohen Würdenträger versucht er sich zu erklären, warum er in der Stadt und nicht auf den Schlachtfeldern ist: „Der General aber erlaubte sich zu erwähnen, daß auch hier in Berlin wichtige Arbeit zu leisten wäre. Es waren gewisse Einflüsse am Werk, pazifistische, jüdisch-liberale, radikalsozialistische Einflüsse, die zu bekämpfen waren. Der Wille des gesamten Volkes mußte zusammengeballt und in eine Richtung gelenkt werden, zu einer letzten gewaltigen Anstrengung.“ (S. 230).

Doch die Zeichen stehen anders, immer mehr verweigern sich den Befehlen und rufen zu Aufständen auf, es brodelt in der Stadt: „Horch! Die Stadt erbebt unter dem Tritt von Hunderttausenden. Über den tausend Köpfen schwankt ein Plakat: Nicht schießen, Kameraden!“ (S. 432). Die Revolution ist in vollem Gange, die hohen Militärs, Beamten und Verantwortlichen versuchen zu fliehen. Die Menschen auf den Straßen erheben sich für ein Ende des Krieges: „Durch die Linden gleitet und schwankt eine Prozession, die alle Blicke auf sich lenkt. Seht! Auf Krücken, auf Stelzfüßen schwingen sie sich daher, Dutzende ohne das rechte Bein, Dutzende ohne das linke Bein, Dutzende ohne Beine. Eine Anzahl wird von Kameraden auf Karren geschoben, sie sind gelähmt. Scharen werden von Hunden geführt, sie sind blind. Sie haben keine Hände, leere Ärmel in die Taschen geschoben. Ihre armselige[n] Uniformen verbergen grässliche Verstümmlungen. Seht, seht, ihr Menschen!“ (S. 447f.). Die Aufstände zeigen Wirkung, am 9. November 1918 dankt der Kaiser und somit die Monarchie, ab. Die erste demokratische Regierung wurde gewählt und tritt in Kraft, der Beginn der so genannten Weimarer Republik.

„Der 9. November“ wurde 2023 vom WBG Theiss Verlag neu aufgelegt und veröffentlicht.

Text: Katrin Huhn

Achtung! rassistische und diskriminierende Begriffe auf den folgenden Seiten: S. 146, S. 198, S. 208, S. 219, S. 231, S. 234, S. 243, S. 245, S. 250, S. 254, S. 258, S. 318, S. 354, S. 393, S. 445f.

Empfohlene Zitation

Bernhard Kellermann, Der 9. November, Berlin 1922, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-23> [21.11.2024].