Heinrich Kurtzig, Ostdeutsches Judentum. Tradition einer Familie, 1927

Quellenbeschreibung

Bereits im Vorwort zu Heinrich Kurtzigs Posener Familiengeschichte(n) zeichnet der zeitgenössische Berliner Unterhaltungsschriftsteller Erdmann Graeser (1870-1937) das den Lesern nun vorliegende Buch als eine herausragende Familienchronik aus. Er lobt, wie „Jüdisches Denken, Empfinden, Handeln […] offenbar [wird] – ohne Fabulierung oder Schönfärberei.“ (S. VI). In seinen anekdotenreichen und vielmehr schlaglichtartig verfassten Geschichten geht der Heimatschriftsteller Kurtzig den verschiedenen Lebens- und Aufstiegswegen naher und ferner Familienangehöriger aus dem kleinen polnisch-deutschen Grenzstädtchen Inowrocław in der preußischen Provinz Posen nach. Anhand des Beispiels seiner Heimatstadt vermittelt er ein unterhaltsam vielstimmiges und breites Bild der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung des ländlichen Ostjudentums und seiner Akteure im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Als Referenzen für seine gesammelten Geschichten dienen dem Autor persönliche Briefe an die Familie, Widmungen, Glückwünsche, aber auch „Gehörtes“. Einer Chronik angemessen beginnt Kurtzig mit der Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte seines Großvaters in dem kleinen Provinzort, den angesehenen und hochdekorierten Doktor Gottlieb Kühlbrand, der noch „wenigstens den Beginn einer für die Juden neuen staatsbürgerlichen Epoche ahnen [konnte], als er anläßlich seines 70. Geburtstages am 18. August 1852 als einer der ersten, vielleicht gar als erster Jude in Preußen, mit dem Roten Adlerorden dekoriert wurde.“ (S. 19). Heinrich Kurtzigs Vater, Aron Kurtzig, war ein wichtiger und umtriebiger Akteur für den industriellen und somit auch wirtschaftlichen Aufbruch vor Ort. Im Jahr 1849 nahm er eine Dampf-Ölfabrik in Betrieb und hielt trotz mehrerer Rückschläge an seiner Idee fest. Zu seinem 50. Berufsjubiläum im Jahr 1899 wurde er von Stadt und Handel mit den folgenden Worten gewürdigt: „Als Jüngling kamen Sie hierher, erfüllt mit ernster Schaffensfreudigkeit, rastlos haben Sie sich die langen Jahre hindurch als Mann betätigt, als Greis sind Sie heute umgeben und gefeiert nicht nur von liebenden Verwandten, sondern auch von weiten Kreisen Ihrer Mitbürger und Freunde aus Stadt und Land.“ (S. 159).

Die traditionelle Begehung jüdischer Feiertage im ländlichen Kreis zeigt sich u.a. in einer liebevoll beschriebenen Kindheitserinnerung, in der Kurtzig bspw. von den Vorbereitungen für das bevorstehende Neujahrs- und Versöhnungsfest erzählt: „Der Vater lud für diese Tage zur Abhaltung des Gottesdienstes einen Vorbeter und Schofarbläser und zur Vervollständigung des ‚Minjan‘ mehrere Talmudschüler aus der Stadt ein, die auf diese Weise zu einem mehrtägigen, erholsamen Landaufenthalt kamen.“ (S. 27f.). Die Lebensgeschichten seiner Familienangehörigen, denen Heinrich Kurtzig jeweils auf wenigen Seiten nachgeht, können unterschiedlicher nicht sein: so berichtet er bspw. von seiner Tante Johanna Neumann, einer Lyrikerin und Prosaschriftstellerin, deren Werke durch den Großvetter Aaron Bernstein (1812-1884), dem späteren Mitbegründer und Redakteur der Berliner „Volkszeitung“ und Chronisten der ostjüdischen Bereiche Preußens, erstmals herausgegeben wurden. Damals kam Bernstein im Hause Kurtzig unter, „um bei dem hochberühmten Rabbi Joske Spiro den Talmud zu studieren“ (S. 37).

Ein weiteres streng religiös erzogenes Familienmitglied, Michael Salomon, wurde sogar zum Bischof geweiht, nachdem er während seines Aufenthaltes in England zum Christentum konvertierte. Zwei Cousins Kurtzigs wurden Geschäftsführer einer Handelsniederlassung in Alaska, deren Schwester Anna heiratete einen Katholiken und erfuhr den sich immer stärker ausbreitenden Antisemitismus am eigenen Leib: „In Paderborn, der Hochburg des Katholizismus, wurde das Leben für meine Kusine zur Hölle. Sie wurde in Wirklichkeit tätlich angegriffen, mit Steinen beworfen und war ihres Lebens nicht sicher.“ (S. 58). Louis Grätz, ein Verwandter Aron Kurtzigs, wanderte nach Amerika aus. Heinrich Kurtzig rekonstruiert anhand seiner Briefe in die Heimat den Werdegang dieses jungen Mannes, der sich vom Hausierer zum Major während des Amerikanischen Bürgerkrieges hocharbeitete und sich letztendlich als erfolgreicher Rechtsanwalt niederließ. Kurtzigs Bruder Gottlieb hingegen sammelte Ende des 19. Jahrhunderts als angehender Jurist folgende Erfahrungen: „Er wurde übrigens zugleich mit vielen anderen Leidensgenossen durch die damals herrschenden antisemitischen Anschauungen in seinem beruflichen Fortkommen arg gehindert. Er war im Jahre 1881 Gerichtsassessor geworden und wurde viele Jahre hindurch durch alle möglichen kleinen Nester der Provinz Posen gehetzt.“ (S. 94). Seit 1871 war es Juden erlaubt den Richterberuf auszuüben, jedoch war die Praxis eine andere.

Die vorherrschenden Probleme, die sich angesichts der verordneten Akkulturation und Assimilation und der Frage nach Konversion zeigten und somit ein selbstbestimmtes und erfolgreiches Leben und Wirken innerhalb der Mehrheitsgesellschaft erschwerten bzw. unmöglich machten, klingen in den Geschichten und Berichten Kurtzigs nur leise und vereinzelt an. Vor allem die große Liebe zur Posener Heimat zeigt sich in der anschaulichen Wiedergabe der gesammelten jüdischen Anekdoten und alten Geschichten, die sein Vater im Familienkreis immerzu zu erzählen pflegte und so das Bild vom idyllischen und friedlichen Zusammenleben wiedergibt. Auch die Zusammenkünfte des Vereins der „Breslauer Dichterschule“ und Begegnungen voller Bewunderung mit bekannten Kunstschaffenden wie etwa Emil Palleske oder Bella Alten werden von Heinrich Kurtzig in kurzen Schlaglichtern wiedergegeben.

„Ostdeutsches Judentum. Tradition einer Familie“ umfasst die vielen verschiedenen Lebens- und Wirkungswege einzelner Familienmitglieder in den zunehmend herausfordernden Zeiten des 19. Jahrhunderts. Die ostjüdische Gemeinschaft musste sich zwischen Fortschritt und Tradition, Moderne und Religion entscheiden, und sah sich konfrontiert mit dem sich verstärkenden Antisemitismus seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Heinrich Kurtzig verstand es laut Graeser „aus liebevollem Herzen das Bild seiner Vorfahren der Nachkommenschaft [zu] erhalten […]“ (S. VI). Das ein Jahr später erschienene Buch „Dorfjuden. Ernstes und Heiteres von ostischen Leuten“ von Heinrich Kurtzig stand offiziell auf der Schwarzen Liste der zu verbrennenden Bücher. Auch der als Digitalisat vorliegende Vorgänger „Ostdeutsches Judentum. Tradition einer Familie“ wurde im Mai 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt.

Text: Katrin Huhn

Empfohlene Zitation

Heinrich Kurtzig, Ostdeutsches Judentum. Tradition einer Familie, Stolp 1927, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-7> [21.11.2024].